Word World (par Jacques Demorgon)

Sources. J. Demorgon Interkulturelle Geschichte der Gesellschaften. Kapitel III, s. 29-39 : Multikulturalismus und interkulturell: Fakten und Werte

I. Multikulturell und interkulturell: Fakten

Diese beiden Begriffe sind nicht austauschbar. Sie müssen beide beibehalten und zusammen gedacht werden. Plurikulturell oder multikulturell (nicht zu verwechseln mit dem Multikulturalismus) bedeutet nichts weiter, als dass innerhalb einer Gesamtheit, die von einem Stadtviertel bis zur ganzen Welt reichen kann, mehrere oder viele Kulturen kopräsent sind. Sie sind kopräsent, aber auf unterschiedliche Weise und aus unterschiedlichen Gründen mehr oder weniger voneinander getrennt. Bezogen auf die ganze Welt ist die Aufteilung in verschiedene große Kultur- oder Zivilisationszonen geohistorisch bedingt. Es gab besiedelte, durch schwer zu überwindende Räume (vor allem Wüsten, Gebirge, Meere) voneinander getrennte Zonen. Diese Multikulturalität der großen Zivilisationen ist offensichtlich. Die verschiedenen großen kulturellen und insbesondere religiösen Zonen entsprechen getrennten Kontinenten. Gleichwohl entstanden alle g•oßen, heute noch praktizierten Religionen innerhalb einer historischen Zeitspanne von knapp tausend Jahren. Und diese Zeitspanne gehört zur großen historischen Kultur- und Gesellschaftsform der König- und Kaiserreiche.

Diese Kultur- und Gesellschaftsform ist eine Antwort auf bestimmte Probleme, die mit dem Ende der vorangegangenen Kultur- und Gesellschaftsform auftraten, der Kultur der Gesellschaften mit Gemeinschaftscharakter. Aus den Zusammenstößen und Arrangements zwischen diesen beiden Kultursfrömungen bildeten sich die besonderen Gesellschaften, zum Beispiel die Nomadenreiche.

Die Kultur- und Gesellschaftsform der König- und Kaiserreiche hat sich trotz ihrer relativen Misserfolge über lange Zeit immer wieder reproduziert, zum Beispiel in China. Bei alledem hat sie, sieht man vom Römischen Reich einmal ab, bestimmte Grenzen nicht überschritten und trat in Europa ohnehin häufiger in Gestalt von König- als von Kaiserreichen auf. Sie hatte manche Höhepunkte zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Ländern, aber auch viele Zeiten der Schwäche. Im Laufe des zweiten Jahrtausends konnte sie nicht verhindern, dass sich andere Orientierungen durchsetzten, und zwar mit Problemlösungen, in denen die Ökonomie einen neuen Platz einnahm.

Das ganze zweite Jahrtausend hindurch frugen die externen Zusammenstöße und Arrangements zwischen Königreichen, die sich zu behaupten oder zu vergrößern suchten, sowie die internen Zusammenstöße und Arrangements mit den ökonomischen Akteuren in diesen Reichen dazu bei, eine dritte, selber äußerst vielfältige Kultur- und Gesellschaftsform hervorzubringen, die Kultur der goßen Handelsnationen. Diese nun sieht sich heute, wo allmählich die Voraussetzungen fir die Entstehung einer vierten großen Kultur- und Gesellschaftsform gegeben sind, der Kultur der weltweiten Information, ihrerseits in Frage gestellt. Damit sind alle vier großen historischen Kultur- und Gesellschaftsformen in einem weltweiten Multikulturellen kopräsent. In vielen Regionen der Welt fanden und finden sich noch heute isolierte Fälle von Gesellschaften mit Gemeinschaftscharakter. Sie konnten überleben, weil dort bestimmte geografische Gegebenheiten und extreme biologische Bedingungen zusammenkamen.

So steht der Begriff Multikulturalität fir handfeste geohistorische Realitäten. Zugleich aber wird deutlich, dass die großen Kultur- und Gesellschaftsformen nur über den Austausch zwischen den besonderen Kulturen entstanden sind. Wie hätten jemals Königeiche zustande kommen sollen, wenn nicht über Zusammenschlüsse der einstnals nomadischen Gesellschaften mit Gemeinschaftscharakter — übrigens um sich wechselseitig zu bekämpfen und den Übergang zur Sesshaftigkeit? Wie hätten die König- und Kaiserreiche von China bis Europa stark werden sollen, wenn nicht als Reaktion auf die Bedrohung durch die Nomadenreiche, von denen sie zweitausend Jahre lang berannt und manchmal auch überrannt wurden, die mitunter aber auch die in mancher Hinsicht überlegene Zivilisation der von ihnen Besiegten übernahmen? 

Dies also war die erste Übergangsphase zwischen zwei großen Kultur- und Gesellschaftsformen. In diesem langen Zeitraum wurde die – gewaltsame oder friedliche Interkulturalität dank der Verschärfung der militärischen Zusammenstöße oder der Intensivierung der Handelsbeziehungen immer deutlicher. Andererseits aber wurden dank neuer Distanzierungen, ja Isolierungen auch die multikulturellen Verhältnisse offensichtlich, Ohnehin können Verhältnisse des einen Typs immer auch, je nach dem, welche Ereignisse eintreten, in Verhälmisse des anderen Typs umschlagen. Das strategische, auf bestimmte Ereignisse zurückzufihrende Interkulturelle kann durchaus wieder zu neuen multikulturellen Verhältnissen fihren. Tatsächlich zwingt schon der Überlebenswille zu Arrangements, die die Zeiten des Kontakts und des religiösen, politischen, ökonomischen Kräftemessens wie auch der mitunter alle Seiten erschöpfenden Zusammenstöße überdauern, selber allerdings wieder neue Voraussetzungen fiir Spaltungen innerhalb eines ansonsten geeinten Ganzen (Kaiserreich, Königreich, Land, Region, Stadt, Viertel) schaffen. Die multikulturellen Verhältnisse wiederum werden oft durch die Bevölkerungsentwicklung von Grund auf verändert. Unter diesen Bedingungen sind klare, starre Trennungen gar nicht immer möglich. Im Gegenteil, es gibt räumliche Nachbarschaften aller Art und ein kulturelles Umfeld, das zumindest partiell ein gemeinsames ist (Zugehörigkeit zur selben geografischen und gesellschaftlichen Zone, zur selben besonderen Gesamtkultur eines Landes (Vereinigte Staaten, Indien, China, CEI usw.), Beteiligung an seinen allgemeinen – politischen, industriellen, kommerziellen – Aktivitäten). Dennoch müssen die Distanzen aufrecht erhalten werden. Zu diesem Zweck werden sie bald rechtlich, bald real durch unterschiedliche Sitten und Gebräuche festgeschrieben.

Unser Versuch einer Klärung besteht zunächst in einer Rekonstruktion der Fakten. Faktenaber werden, damit sie zu den jeweiligen Strategien und Ideologien passen, verschwiegen, verdrängt, verändert, selektiv wahrgenommen. Probleme sind nicht in erster Linie eine Sache des Denkens, sondern des Erlebens. Die besonderen Kulturen von Ländern sind Systeme, die an ihre kulturellen und sfrategischen Lebenswelten von gestern, heute und morgen gebunden sind. So muss man sich klar machen, um nur das Beispiel der Vereinigten Staaten zu nehmen, dass der Bewusstseinswandel, der dazu fiihrte, dass die Frage des Multikulturellen aus multikulturalistischer Sicht gestellt wurde, erst vor rund zwanzig Jahre einsetzte. Im Jahre 1981 tauchte der Ausdruck « Multikulturalismus », wie Nathan Glazer feststellte, in den yoßen amerikanischen Zeitungen nur in vierzig Artikeln auf. Dann aber nahm das Interesse explosionsartig zu. Zehn Jahre später, 1992, zählt der Autor in der gleichen Stichprobe den Ausdruck bereits 2000 Mal.

Stünde also das Multikulturelle fir eine bestimmte Form von Koexistenz, nämlich das Nebeneinander von Kulturen, und das Interkulturelle fir bestimmte Zeiten der – gewaltsamen oder friedlichen – Kontakte, dann hätte man zwei Begriffe, die einigermaßen klar voneinander getrennt und beide notwendig sind, was auch den Gegensatz zwischen den beiden Orientierungen entschärfen würde. Doch ist dies nicht zu erwarten. Beide Orientierungen nämlich wurden in ihren jeweiligen kulturellen Zonen in Wirklichkeit zu stringenten Strategien ausgebildet.

II. Vom Multikulturellen zu den Multikulturalismen: Mehrdeutigkeiten und 

III. Interkulturell und multikulturell Begriffe , die selber kulturell bedingt sind

IV. Adaptive Notwendigkeiten, die dem Multikulturalismus und demInterkulturellen zugrunde liegen

V. Multikulturell und interkulturell: Illusionen und Werte

Auswahlbibliografie

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