Word World (par Jacques Demorgon)

IV.    Graphosphäre und Videosphäre: Kosmische und politische Strukturen

1. Das strategische Milieu, auf das die Macht projiziert wird, ist nun nicht mehr das « Land » wie in der Logosphäre, sondern das « Meer ». Zwar haben die Gesellschaften nicht erst in diesem Zeitalter mit der Eroberung des Meeres begonnen. Dies geschah, wenn auch noch bescheiden, bereits in der Antike, dann im Islam, der schon weiter ausholte und das westliche Mittelmeer beherrschte, und schließlich durch die Normannen, die den Arabern Sizilien wieder abnahmen. Aber bei den Kulturen der König- und Kaiserreiche stand das Meer nicht im Vordergrund. Im übrigen ging hier die technische Entwicklung sehr langsam voran.

Zu betonen ist auch, dass die Bezeichnung Graphosphäre geographisch auf einen bestimmten Raum beyenzt ist. Sie gilt nur für die privilegierten « Kemländer », deren kulturelle Umwälzungen in der Graphosphäre wichtig, ja entscheidend wurden. Deshalb interessiert sich die Mediologie für sie.

Was nun entsteht, ist die Kulturform der großen Handelsnationen. Die Erfindung des Buchdrucks, die Erfindung des Protestantismus, die Alphabetisierung der Massen erleichterten die sprachliche Vereinheitlichung und die Entstehung eines Nationalbewusstseins auf der Grundlage von diversifizierten Religionen. Bei dieser Umwälzung der fir den indoeuropäischen Raum grundlegenden Hierarchie des religiösen, des politischen und des ökonomischen Sektors (wie von Dumézil beschrieben) spielten die Protestantismen als geistige Kraft eine wichtige Rolle. Die drei Sektoren werden miteinander vermengt. Was zählt, ist die Hingabe des Einzelnen an seine wie immer geartete Arbeit. Mein Arbeitsethos ist, zum Beispiel, fir mich ein Zeichen (aber kein Beweis) meines Heils.


Durch ein Zusammenteffen von Entwicklungen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Sektoren (technisch, ökonomisch, religiös, politisch) vollzogen, fritt die Kultur der großen Handelsnationen in eine Rivalität, aber auch in eine Verbindung mit den je nach Land mehr oder weniger dominanten Kulturen der König- und Kaiserreiche ein. Anfänglich setzt diese Aufwertung des Ökonomischen, die bereit einen politischen Akt darstellt, noch eine gewisse Schwäche des (feudalen oder königlichen) Politischen voraus. Danach entsteht in einer Art geheimem Einverständnis zwischen der Kultur der Königreiche und der Kultur der großen Handelsnationen die Ideologie und Praxis des Merkantilismus. Am Ende überwiegt die Rivalität, die schließlich in den Revolutionen – der englischen, der französischen, der amerikanischen – mit Gewalt ausgetragen wurde. So kann man am Beispiel der Graphosphäre sehen, wie eine Mediasphäre entsteht, nämlich durch einen Sfrukturwandel, der an vielen verschiedenen Polen gleichzeitig ansetzt, sich aber über unterschiedliche Räume und Zeiten erstreckt und auch geographische und historische Phasenverschiebungen nicht ausschließt.

In diesem Sinne spielt das Meer als das Milieu, auf das die Macht (um auf sie zurückzukommen) projiziert wird, bereits bei der Entstehung der Hanse24 eine Rolle, jenem Zusammenschluss der Hansestädte um Lübeck im Jahre 1280. Braudel und Wallerstein haben in ihren großen Überblickswerken anhand zahlreicher Arbeiten zu einzelnen Gebieten gezeigt, in welchem Maße die große Geschichte damals zur Geschichte der Meere und Ozeane wird. Man denke nur an den Schiedsspruch des Papstes, der im Vertrag von Tordesillas die Welt entlang einer von Grönland bis Patagonien reichenden Linie aufteilt und Portugal die östlich dieser Linie gelegenen Gebiete zuspricht, Spanien die westlich gelegenen Gebiete. Christoph Kolumbus war bereits nach Westen aufgebrochen, während Vasco da Gama 1498 Afrika umsegelte und bis nach Indien gelangte. Die Achse der portugiesischen Expansion reichte schließlich bis nach China (Macao) und Neuguinea. Darüber hinaus landet Cabral im Jahre 1500 in Brasilien, dessen Kolonisierung um 1520 begann(25). Bei alledem herrscht immer noch eine Sichtweise vor, die zwar zwischen Reich und Nation steht, aber immer noch dichter am Reichsgedanken zu sein scheint als am Denken in Nationen. Doch nähert man sich diesem bereits, bedenkt man die wachsende Macht der Hansestädte, die noch heute wegen ihrer Kultur aus jener Zeit berühmt sind, in der sie eine nach der anderen einen bedeutenden Anteil des Welthandels kontollierten: Brügge, Venedig, Antwerpen, Genua, Amsterdam und schließlich, nach Englands endgültigem Sieg über die angeblich unbesiegbare spanische Armada (1588), London.

Die Rivalität zwischen der Kultur der großen Handelsnationen und der Kultur der König- und Kaiserreiche steht da schon lange auf der Tagesordnung. Braudel verweist darauf, dass laut D. Zakytinos bereits 1348 die kaiserlichen Zollstationen von Konstantinopel, der Hauptstadt des Oströmischen Reichs, nur 30.000 sous d’or einnahmen, die « genuesischen Zölle von Pera dagegen bereits 200.000 sous d’or26

Braudel schreibt außerdem über Spanien: « Jede Großmacht setzt voraus, dass es einen äußeren Raum gibt (das Ausland), der größer ist als der Raum, den es direkt beherrscht (das Inland). Kurz, jede Großmacht setzt einen Raumüberschuss voraus. Für Spanien waren dies, verkürzt gesagt, der mittlere Atlantik und die beiden Amerika27. Von der Ostsee im 13. Jahrhundert bis zum Mittelmeer und zum Atlantik in den darauf folgenden Jahrhunderten bestätigte sich zugleich mit der Entwicklung der Graphosphäre das Meer als das Medium für die Projektion der Macht.

Worin aber besteht dieser Zusammenhang, wird man fragen. Er besteht in der Entwicklung eines Welthandels, dem das Meer, das nicht wie das Festland unter der Konfrolle der einzelnen Länder steht, materiell und symbolisch die größere Sicherheit bietet. Er besteht außerdem in der gleichzeitig erfolgenden Entwicklung der Buchhaltung, ohne die sich dieser internationale Handel gar nicht befreiben ließe. Die Beherrschung der Meere bleibt der Ort der Machtprojektion und die Grundlage, auf der die Engländer ihre Vorherrschaft aufbauen. Als die Franzosen die Montgolfiere entwickeln, schreibt der Bruder des Königs einen bezeichnenden Vierzeiler: 

« Les Anglais, nation trop fière, s’arrogent l ’empire des mers. 

Les Français, nation légère, s’emparent de celui des airs.

(Die Engländer, die zu stolze Nation,
 reißen die Herrschaft über die Meere an sich. 

Die Franzosen, die leichte Nation, bemächtigen sich der Herrschaft über die Lüfte.) 

Mit der Videosphäre ändert sich auch das sfrategische Milieu fiir die Projektion der Macht: Es ist nun der « Raum « .

Die einstige UdSSR und die USA rivalisierten bekanntlich um die Eroberung des Mondes und der fernen Planeten. Die Beherrschung des erdnahen Himmelsraums, insbesondere mit Hilfe der amerikanischen Projekte fir den so genannten « Krieg der Steme », hat dazu beigefragen, dieser Rivalität ein Ende zu bereiten.

Die gemeinsame Wurzel ist hier natürlich die schwindelerregende Zunahme der Geschwindigkeit, mit der sich Zeichen und Menschen im Raum bewegen.

2. Die Einheit der sozialen Ausrichtung beruhte in der Logosphäre auf dem « symbolischen Einen « , in der Graphosphäreauf dem « theoretischen Einen « . An die Stelle des Königs und des dynastischen Prinzips teten nun das « Staatsoberhaupt » und das « ideologische Prinzip « . Die Grundlage ist nicht mehr die organische Einheit einer Herrscherfamilie, sondern die bestechende Einheit einer als optimal angesehenen politischen Gesamtkonzeption. Das Prinzip der besten aller möglichen Welten, von Leibniz als Grundlage des göttlichen Handelns und damit noch auf der theologischen Ebene postuliert, wird auf die politische Ebene verlagert und, wenn man so will, verweltlicht.

In der Videosphäre findet die Einheit der sozialen Ausrichtung ihren dominanten Ausdruck in dem « arithmetischen Einen « , dem « Führer ». Das Prinzip ist « statistisch « , und hieraus ergibt sich auch die Praxis der Umfragen, Popularitätskurven, Einschaltquoten. Angesichts der sich unaufförlich mit ungewissem Ausgang verändernden Realität erscheinen die Ideologien von gestern prätentiös, vage, nebelhaft, totalitär, wenig flexibel.

Hier sei, um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, Debrays Analysen seien etwa evolutionär zu verstehen, noch einmal auf seine Fonnel von den « drei Zeitaltern gleichzeitig »(28) verwiesen Besser kann man die Realität des Fortbestehens früherer großer Kulturformen gar nicht beschreiben. Sie bleiben, wenn auch in abgeschwächter oder modifizierter Form, in der einen oder anderen Weise auch in dem Zeitalter erhalten, in dem die neue Kulturform dominiert; und so beharrlich, wie diese früheren Kulturen fortbestehen, so beharrlich entwickelt sich bereits die neue künftige Kultur. Zwar kann sich die eine oder andere soziale Konstante, etwa das Gruppenideal, kurz vor oder kurz nach dem allgemeinen Wandel verändem. So wissen wir – selbst wenn es uns nicht gefällt —, dass im Herzen unserer demokratischen Kultur, die vielleicht schon längst eine „frühere » geworden ist, die Umfragen bereits einen Einfluss haben, der ein echtes Gegengewicht zu den Wahlen darstellt, bei denen es noch um ideologische Positionen geht. Die neue dominante Konstellation setzt sich umso eher durch, als sie immer auch ein wenig die Formen und Inhalte ihrer Vorgängerinnen übernimmt. Die Umfragen entstanden aus der Verbindung von demokratischer Ideologie und wissenschaftlicher Technik. Sie sind, « mutatis mutandis », in Echtzeit wiederholte Stichprobenwahlen. Sie stellen eine Art permanenten Seismographen dar, der die vielfältigen Meinungsbewegungen in der Bevölkerung registriert. Der einzelne Kandidat aber kann beschließen, dass er darauf nichts gibt. Denn nur weil der arithmetische Eine gerade in den Umfragen dominiert, sind doch das theoretische Eine, die ideale Perspektive, und das symbolische Eine, die gesellschaftliche Einheit, die zu den Mediasphären der früheren Kulturen gehören, nicht verschwunden oder funktionslos geworden. Ganz im Gegenteil, die drei Arten der Einheit bilden zwar eine bestimmte Hierarchie, sind aber dennoch ko-präsent und können jederzeit neue besondere Verbindungen eingehen. Auf eben diese Weise, nämlich über solche unterschiedlichen Verbindungen, haben sich ja auch die großen europäischen Länder diversifiziert.

3. Die vorangehenden Bemerkungen sind bereits ein Vorgriff auf die Entwicklung des « Gruppenideals « . In der Graphosphäre ist das Gruppenideal nicht mehr der « Eine  » samt seiner Fehlentwicklung in Gestalt des « Absolutismus Es ist « Alle « , die Nation, das Volk, der Staat, und seine politischen Fehlentwicklungen sind der « Nationalismus » und der »Totalitarismus ». In der Videosphäre ist das Gruppenideal « Jeder », und seine politischen Fehlentwicklungen sind « Individualismus » und « Anomie ».

Schon in den sechziger Jahren hieß es in einem aus Amerika übernommenen Schlager:

« Je fais ma route, tu fais ta route, chacun de son côté »

Bezeichnend ist eine kleine, in Francoscopie, im Kapitel « Werte » erschienene Karikatur.(29) Darin hält jemand ein Schild hoch, auf dem steht: « Chacun pour soi dans le nouvel parti égologique. (30)

4. Auch die « Figur der Zeit » ändert sich. Nach dem « Kreis  » der Logosphäre kommt nun die « Linie  » der Graphosphäre: die Linie in der Schrift, die Linie der Perspektive in der und Ereignis der « Punkt », und der « Vektor der zeitlichen Orientienmg » in dieser Kultur der Gegenwart ist « autozenfriert ».

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