VI./ Akteure und Mittel in Graphosphäre und Videosphäre
In allen Mediasphären gehen Veränderungen des symbolischen Universums immer auch mit Veränderungen bei den Akteuren und bei den Mitteln einher.
1./ So ist die im Besitz des sozialen Heiligen befindliche geistige Klasse nicht mehr wie in der Graphosphäre die Kirche mit dem Dogma als Allerheiligstem, sondern die « nichtklerikale Intelligentsia » mit ihren Professoren und Doktoren und einem eigenen Allerheiligsten, nämlich der « Erkenntnis » oder vielmehr dem als Erkenntnis verstandenen Wissen.
In der Videosphäre wird diese geistige Klasse von den « Medien und ihren Produzenten und Betreibern » repräsentiert. Ihr Allerheiligstes ist die « Information « .
In katholischen Kirchen gibt es ein kleines rotes Lämpchen, das ein Symbol der ständigen Präsenz Christi ist. In der Videosphäre sorgen Handys, Radios, Walkmen, Fernseher, Video-CDs, Rechner und weltweite Netze damr, dass Informationen jederzeit und überall verfiigbar sind.
2./ In der Logosphäre war das Mittel der Beeinflussung die Predigt, in der Graphosphäre ist es die « Veröffentlichung« . In der Videosphäre genügt nun auch das Veröffentlichen nicht mehr. Jetzt ist der « Aufritt » (im Radio, vor allem im Femsehen) das Mittel, um Einfluss auszuüben, und die Veröffentlichung eines Buchs ist nur mehr ein Mittel, um zu einem Aufritt in Radio-Gesprächsrunden oder Femseh-Talkshows zu kommen.
3./ Der Motor des Gehorsams, der in der Logosphäre der Glaube war, ist in der Graphosphäre das « Gesetz« . Besteht man im Glauben auf allzu viel Gewissheit, um jeden Zweifel und die mit ihm verbundene Angst zu beseitigen, kann dies zum Fanatismus führen. Sucht man aus eben diesen Gründen zu viel Gewissheit in den – wissenschaftlichen, juristischen, ästhetischen, moralischen – Gesetzen, kann daraus Dogmatismus entstehen. Man lasse sich aber von dem Wort Dogma, wie es in der Logosphäre gebraucht wird, nicht irreführen. Dogmatisch ist hier, wer sich eines von ihm selbst definierten menschlichen Wahren, Richtigen, Schönen und Guten gewiss ist. Dieser Dogmatismus ist menschlichen Ursprungs und besteht nicht mehr wie in der Logosphäre in dem unbedingten Gehorsam einem Dogma gegenüber, das ein Produkt des göttlichen Willens ist.
In die Videosphäre ist der Motor des Gehorsams « die Meinung« . Diese kann zum ”Relativismus” führen, der den raschen Veränderungen und ständigen Fluktuationen der Aktualität letztlich durchaus zu entsprechen scheint. Diese Prägnanz der Meinung in der Kultur der Videosphäre geht mit der Entstehung und Weiterentwicklung von Meinungswissenschaften und —techniken einher. Daher das Starren auf Auflagenhöhen Leserzahlen, Bestseller, Besucherzahlen im Kino oder Einschaltquoten beim Fernsehen. Zur, Erklärung der erzielten Ergebnisse können dann wieder Umfragen erforderlich sein.
4./ Die Kontrolle der Körperflüsse in der Logosphäre ist kirchlich und direkt und bezieht sich auf die beobachtbare Konformität des Verhaltens, das « verdächtig » oder « unverdächtig » sein konnte. In der Graphosphäre ist die Kontolle der Körperflüsse « politisch » und « indirekt« . Der Staat übt sie mit Hilfe des Rechts aus. Gesetzbücher legen fest, welcher Mittel sich das Verhalten legitimerweise bedienen darf und welche Sanktionen bei Nichtbefolgung verhängt werden (Stafgesetzbuch).
In der Videosphäre ist die Kontrolle “ökonomisch”. Sie wirkt über das Interesse, auf das die Botschaften stoßen, also über den ökonomischen Erfolg oder Misserfolg und den Bekanntheitsgrad (kathodische Kontrolle). Diese Form der Kontrolle setzt sich durch, weil sie flexibler, neutraler, rasch in Echtzeit anwendbar und fir Staat und Gemeinschaft weniger kostspielig ist. Sie schließt jedoch den Rückgiff auf Kontrollfonnen aus früheren Kulturen durchaus nicht aus. Diese früheren Formen (nämlich Moral- und Rechtsvorschriften) waren wirkungsvoller, so könnte man meinen, doch war ihre Anwendung aufwendiger, da sie eine umfassende Mobilisierung von Familie, Schule, Religion und öffentlicher Meinung voraussetzten.
VII. Die Figur des Individuums in der Graphosphäre und in der Videosphäre
1./ Der Status des Individuums in der Logosphäre ist der Untertan, dem befohlen wird. In der Graphosphäre ist es der “Bürger, der zu überzeugen ist”. In der Videosphäre ist es der « Konsument, dem man verführen muss » (“der Kunde ist König”).
2./ Das « Diktum derpersönlichen Autorität« , das in der Logosphäre « Gott hat es befohlen » (oder « wahr wie das Evangelium ») war, ist in der Graphosphäre: « Das hat so im Buch gestanden » (oder: „wahr wie das gedruckte Wort »), und in der Videosphäre: « Das habe ich im Femsehen gesehen » (oder „wahr wie eine Direktübertragung) ».
3./ Das kanonische Alter ist in der Logosphäre der Alte, in der Graphosphäre der Erwachsene, in der Videosphäre der Jugendliche.
M. Mead hatte in « Fossé des générations » untersucht, wie sich die dominanten Prozesse der Kulturübermittlung verändem. Eine Kulturübermittlung, deren Wirksamkeit auf der Ko-Präsenz dreier Generationen an ein und demselben familialen und erzieherischen Ort beruht, nennt sie “post-figurativ”. An diesem Ort kamen die Figuren der Autorität doppelt vor: Das Kind gehorchte seinen Eltern, die selber ihren eigenen Eltem gehorchten. Diese doppelte Konkretisierung ermöglichte eine gründlichere und stärker verinnerlichte Identifikation mit dem vorgeschriebenem Verhalten und erleichterte damit die Befolgung der moralischen Regeln.
Später befasst sich M. Mead mit einer bestimmten Periode der amerikanischen Geschichte, nämlich der « Eroberung des Westens ». Amerikanischen Filmen zu diesem Thema ist zu enmehmen, dass Eltem, die zum Aufbruch nach Westen bereit waren, Großeltern, die schon zu alt sind, nicht mimehmen können. Am Ziel angelangt, ist der Vater dann aufdie Hilfe und Erfindungsgabe seines ältesten Sohnes angewiesen, um den Raum zu schließen, das Haus zu bauen, sich in ihm einzurichten. Hier findet eine wechselseitige Kulturiibermittlung statt: Ein Teil der neuen Kultur wird von den Söhnen erfunden. Diese Kulturübemittlung, bei der die Figuren der Kultur von zwei Generationen ko-produziert werden, nennt M. Mead “ko-figurativ”. Allerdings ist die Eroberung des Westens nur ein Beispiel dafiir, wie sich Verhälmisse ändern können.
Die inmer raschere Entwicklung von Wissenschaft und Technologie scham immer mehr Bereiche, in denen der Erwachsene dem Jugendlichen unterlegen ist. Dieser nämlich wächst bereits in dem Informationstrom heran, der ilm über den neuesten Stand der ästheüschen (Musik, Kleidung) wie der wissenschaftlichen, technischen und sozialen Entwicklung auftlärt. Oft ist er es, der seinen Eltern einen Teil dieser neuen Kultur – zum Beispiel die EDV – vermittelt. Dies ist bei M. Mead die “prä-figurative” Übermittlung. Die Kultur, die dem Jugendlichem von seiner auf dem jeweils neuesten Stand befindlichen Gegenwart her zufließt, ist ein Vorgriff auf die Kultur, die künftig die Kultur aller sein wird.
4./ Der « subjektive Schwerpunkt » in der Logosphäre ist die Seele (Anima). Als unsichtbares Substrat begründet sie auf geheimnisvolle Weise die Person und sichert ihre Identität und Kontinuität diesseits wie jenseits der Zufälligkeiten, denen sie ausgesetzt ist. In der Graphosphäre liegt das Vermögen zur Synthese, dessen das Individuum bedarf, um die Überfiille der auf es einstürmenden neuen Informationen zu bewältigen, beim « Bewusstsein (Animus) « . Es ist fiir die Ordnung im Kopf dessen zuständig, der den Kopf voll hat. Es stärkt vor allem auch die Seele: « Science sans conscience n’est que ruine de l’âme. » In der Videosphäre ist dieses Zentum der Selbstprüfung der « Körper (Sensorium) « . Informiert sein, aber auch in Form sein, « sich in seiner Haut wohl fihlen », sind Schlagworte und Klischees unserer Videosphäre. Körperwissenschaften und Körpertechniken wurden teilweise von den fernöstlichen Kulturen übemommen oder auf wissenschaftlicher Grundlage neu entwickelt. Die Werbung fiir medizinische Produkte oder für Produkte, die die Hygiene beteffen, spricht unentwegt vom Körper. Der Sport hat sich ausgebreitet und demokratisiert, jetzt kann sich jeder einen aussuchen. Immer mehr individuelle, tragbare Apparate erlauben eine Überwachung von Körperfunktionen in Echtzeit: “Mon corps, mon beau souci”.
5./ Der “Identifikationsmythos” in der Logosphäre ist laut Debray der Heilige, in der Graphosphäre “der Held”. Damit sind wir bei einer Wpischen Schwierigkeit seiner Arbeit angelangt. Debray möchte den Identifikationsmythos in jeder Mediasphäre anders nennen. Aber diese Realität, die eine ganze Mediasphäre hindurch verherrlicht und überhöht wurde,verschwindet ja nicht. Sie verändert sich, behält frühere Merkmale bei und offenbart neue. Kurz, sie wird komplexer und allgemeiner zugleich. Sie tritt aus der Diachronie heraus und wird mehr und mehr synchronisch und sogar achronisch.Dies gilt natürlich auch fir den Helden. Die Identifikation mit dem Helden gibt es nicht erst seit der Graphosphäre. Bereits in den Jahrtausenden der Logosphäre ist sie eine stark prägende Kraft, und selbst in der Mnemosphäre dürfte sie zumindest gegen Ende schon präsent gewesen sein. G. Dumézil verdanken wir eife packende Darstellung der alten Skythen, und zwar anhand ihres Buchs der Helden. » Aber auch in der Graphosphäre gehört der Begriff Held noch zumBezugsrahmen. Man bekommt einen Begriff von dieser Idenffkation mit dem Helden und seiner Fonn von Ehre und Ruhm, wenn man sich die Rede mhört, mit der sich Shakespeares Heinrich V. vor der Schlacht von Azincourt am Sankt-Crispinus-Tag des Jahres 1415) an seine Truppen wendet:
« Und nie, von heute bis zum Schluß der Welt, Wird Crispin Crispians vorübergehn, Dass man nicht uns dabei erwähnen sollte, Uns wen’ge, uns beglücktes Häuflein Brüder: Denn welcher heut sein Blut mit mir vergießt, Der wird mein Bruder; sei er noch so niedrig, Der heut’ge Tag wird adeln seinen Stand; Und Edelleut’ in England, jetzt im Bett, Verfluchen einst, dass sie nicht hier gewesen, Und werden kleinlaut, wenn nur jemand spricht, Der mit uns focht am Sankt-Crispinus-Tag. »
An dem Tag, an dem man früher einen im Jahre 287 gestorbenen Märtyrer feierte, der zum Schutzheiligen der Schuster wurde, wird man nun auf immer die Engländer feiern, die Helden von Azincourt.
In der heutigen Zeit aber, in der Videosphäre, wird der neue Identifikationsmytho vom Schauspieler (Kenneth Branagh) verkörpert, der Heinrich V., aber auch viele andere reale oder fiktive Personen « spielt » — also vom « Star ». Der Star ist nicht mehr auf das Kino beschränkt. Es gibt ihn in der Politik, den Künsten, der Literatur, der Haute Couture. In
Frankreich steht fir diese Erweiterung der Kinoenthusiast Frédéric Mitterand mit seinen Hymnen auf die jeweils aktuellen Schauspieler, Schauspielerinnen, Regisseure (Fellini), aber auch auf Könige und Königinnen, die er ebenfalls wie Stars behandelt. Und darnit uns die Aktualität nicht zu falschen Interpretation verleitet, sei noch darauf hingewiesen, dass die « Topmodels » die Stars nicht ablösen. Sie sind nur ihre gerade aktuelle Variante.